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"ECCLESIA SUPPLET- Prinzip"


A) Inhalt und Grenzen der Hirtengewalt

1. Die Kirchengewalt umfaßt die Hirtengewalt und die Weihegewalt[1].

a) Die kirchliche Hirtengewalt wurde dem Papst als Nachfolger Petri und den Bischöfen als Nachfolger der Apostel von Christus anvertraut, um die Herde der Christgläubigen zu weiden und in den Himmel zu führen. Die kirchliche Hirtengewalt (=Jurisdiktionsgewalt) umfaßt die legislative, exekutive und judikative Regierungsgewalt über die Kirche.

Die Jurisdiktionsgewalt leitet sich nicht vom Empfang einer Weihe her, sondern aus der Ämterhierarchie der Kirche:

aa) Der Papst erhält die Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Kirche direkt von Christus, sobald er rechtmäßig gewählt ist und die Wahl aus freiem Willen angenommen hat.

bb) Verschiedene Ämter in der Kirche sind per Gesetz automatisch mit Jurisdiktionsgewalt verbunden (ordentliche Jurisdiktion), so etwa das Amt des Diözesanbischofs.

cc) Die Jurisdiktion kann von einem Inhaber der ordentlichen Jurisdiktion auf gesetzmäßige Weise delegiert werden (delegierte Jurisdiktion), wenn beispielsweise ein Diözesanbischof einen Priester beauftragt, das Sakrament der Firmung zu spenden[2].

b) Die Weihegewalt wird durch gültige Weihe übertragen und ist eine metajuristische Tatsache, die der Regelungskompetenz der Ämterhierarchie entzogen ist: So kann die Ämterhierarchie nicht in Ausübung ihrer Jurisdiktion festlegen, daß Laien gültig die Sakramente spenden können oder die von einem gültig geweihten Priester gespendeten Sakramente ungültig seien, weil diese Befähigung einzig und allein von der Weihegewalt und damit vom metaphysischen Prägemal der Seele abhängt, die der Priester durch die Priesterweihe unwiderruflich erlangt[3]. Die Träger der Hirtengewalt können einem Priester lediglich verbieten, seine Weihegewalt in erlaubter Weise auszuüben.

2. Die Bedeutung der Weihegewalt und der Hirtengewalt für die Sakramente besteht in der Regel darin, daß die Weihegewalt über die Gültigkeit der Sakramente entscheidet und die Hirtengewalt über die Erlaubtheit der Sakramentspendung oder einer hoheitlichen Handlung.

Die Bischöfe der FSSPX verfügen unstreitig über Weihegewalt, da sie von einem gültig geweihten Bischof geweiht wurden, und sind daher unstreitig imstande, ihrerseits gültig die Priester- und Bischofsweihe zu spenden und ebenso wie die von ihnen geweihten Priester gültig die Heilige Messe zu zelebrieren. Den Geistlichen der FSSPX wird jedoch grundsätzlich keine Hirtengewalt zuerkannt, da sie keine Träger der ordentlichen Jurisdiktion sind und ihnen die delegierte Jurisdiktion verweigert wird. Somit sind sämtliche priesterliche Handlungen, welche den Besitz von Jurisdiktionsgewalt erfordern – die Predigt, die reguläre Spendung der Taufe, die Krankenkommunion, die Aufbewahrung des Allerheiligsten, die Vornahme von Beerdigungen etc. –, dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden unerlaubt ausgeübt. Dies stellt im Normalfall kein Problem dar, da wir davon ausgehen können, daß die Verweigerung der Jurisdiktion durch die derzeitige Ämterhierarchie eine rechtsmißbräuchliche Ausübung der Hirtengewalt darstellt, weil sie auf die Unterdrückung der traditionellen katholischen Lehre und der traditionellen Liturgie abzielt, auch formal unerlaubte Handlungen daher wegen der Notstandssituation materiell gerechtfertigt sind und die Gültigkeit von Meßopfer und Priesterweihe von der fehlenden Jurisdiktion ohnehin unberührt bleibt.

3. Im Falle der Beichte und der Eheschließung ist die Jurisdiktion jedoch nicht nur Voraussetzung für die Erlaubtheit, sondern auch für die Gültigkeit der Sakramentspendung

a) Die sakramentale Absolution bewirkt unmittelbar die Versöhnung des Pönitenten mit der Kirche, welche wiederum Voraussetzung für die Versöhnung mit Gott ist. Daher ist die Absolution ein Hoheitsakt der Kirche, wodurch der Sünder in die Gemeinschaft der Gläubigen wieder eingegliedert wird. Daher setzt die gültige Spendung des Beichtsakramentes nicht nur die Weihegewalt, sondern auch die hoheitliche Hirtengewalt über den Pönitenten voraus[4]: „Zur gültigen Absolution von Sünden ist erforderlich, daß der Spender außer der Weihegewalt die Befugnis besitzt, sie gegenüber den Gläubigen, denen er die Absolution erteilt, auszuüben.“ (c. 966 CIC)

b) Das Sakrament der Ehe spendet grundsätzlich nicht der Priester, sondern spenden die Eheleute sich gegenseitig. Die Beachtung der kirchlichen Formvorschriften zur Eheschließung, welche die Eheassistenz eines bevollmächtigten Priesters vorsieht, gilt jedoch als Gültigkeitsvoraussetzung, da durch die Eheschließung eine besondere kirchliche Gliedstellung begründet wird, die ihnen nur die Autorität der Kirche verleihen kann[5]: „Nur jene Ehen sind gültig, die geschlossen werden unter Assistenz des Ortsordinarius oder des Ortspfarrers oder eines von einem der beiden delegierten Priesters oder Diakons sowie vor zwei Zeugen, jedoch nach den Regeln der folgenden Canones und unbeschadet der in den cann. 144, 1112, § 1, 1116 und 1127, §§ 1-2 genannten Ausnahmen.“ (c. 1108 CIC).

Fraglich ist, ob die Beichten und Eheschließungen bei der FSSPX daher ungültig sind.

B) Ersetzung fehlender Jurisdiktion durch das Kirchenrecht

Da die Hirtengewalt der kirchlichen Ämterhierarchie anvertraut ist, um das Seelenheil der Gläubigen zu befördern, ist sie daran interessiert, daß das Seelenheil der Gläubigen nicht durch ungültige Sakramentspendungen aufgrund fehlender Jurisdiktionsgewalt gefährdet wird. Das Territorialprinzip, wonach ein Diözesanbischof die ihm unterstellten Priester grundsätzlich nur für die eigene Diözese die Beichtvollmacht verleihen kann, könnte beispielsweise zu der grotesken Situation führen, daß die Gültigkeit einer Beichte im Grenzgebiet zweier Diözesen von geringen räumlichen Unterschieden abhängen kann – aus diesem Grund haben die Bistümer untereinander vereinbart, daß ihre Priester auch in Nachbardiözesen die Jurisdiktion besitzen sollen. Weiterhin beinhaltet das Kirchenrecht zahlreiche Bestimmungen, wonach die fehlende Jurisdiktion durch die Kirche ersetzt und auch ohne Delegation durch einen Hoheitsträger unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar durch das Kirchenrecht verliehen wird. Wenn beispielsweise ein Gläubiger sich in Todesgefahr befindet, wird jedem Priester per Gesetz die erforderliche Vollmacht verliehen, eine gültige Absolution zu erteilen (c.  976 CIC).

Hierbei gibt es keine Bestimmung, welche für die Situation der FSSPX präzise einschlägig wäre. Das Kirchenrecht gestattet und gebietet jedoch dezidiert, in nicht ausdrücklichen geregelten Fällen auf die Vorschriften über vergleichbare Situationen zurückzugreifen und die entsprechenden Normen analog anzuwenden: „Wenn in einer bestimmten Sache die ausdrückliche Vorschrift eines allgemeinen oder partikularen Gesetzes oder eine Gewohnheit fehlt, ist die Sache, wenn es nicht eine Strafsache ist, zu entscheiden Unter Berücksichtigung von Gesetzen, die für ähnlich gelagerte Fälle erlassen worden sind, von allgemeinen Rechtsprinzipien unter Wahrung der kanonischen Billigkeit sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung und Rechtspraxis der Römischen Kurie und der gemeinsamen und ständigen Ansicht der Fachgelehrten.“ (c. 19 CIC). Im übrigen ist bei der Auslegung der Rechtsnormen im Zweifel immer zugunsten des betroffenen Gläubigen und somit für die Gültigkeit eines Sakramentes zu entscheiden, da das Heil der Seelen das oberste Gesetz der Kirche ist, wie c. 1752 CIC bekräftigt, und daher sämtliche kirchenrechtlichen Normen im Lichte der übergeordneten Aufgabe der Kirche zu lesen sind, die ihr anvertraute Herde Christi in den Himmel zu führen.

1. außerordentliche delegierte Jurisdiktion

a) außerordentliche Form der Eheschließung

Das Kirchenrecht beinhaltet hinsichtlich des Ehesakramentes eine Bestimmung, unter welchen Umständen die Ehe auch ohne einen bevollmächtigten Priester gültig geschlossen werden kann:

c. 1116 CIC: „Wenn ohne schweren Nachteil niemand herbeigeholt oder angegangen werden kann, der nach Maßgabe des Rechts für die Eheschließungsassistenz zuständig ist, können jene, die eine wahre Ehe eingehen wollen, diese gültig und erlaubt allein vor den Zeugen schließen:

§1 Nr. 1: in Todesgefahr

§1 Nr.2: außerhalb von Todesgefahr, sofern vernünftigerweise vorauszusehen ist, daß der Zustand dieser Verhältnisse einen Monat andauern wird.

§2: In beiden Fällen muß, wenn ein anderer Priester oder Diakon anwesend sein kann, dieser gerufen werden und zusammen mit den Zeugen bei der Eheschließung dabeisein, unbeschadet der Gültigkeit der Eheschließung allein vor den Zeugen.“

C.1116 CIC wäre einschlägig, wenn die Eheassistenz eines Pfarrers der Amtskirche einen „schweren Nachteil“ darstellen würde. Ein schwerer Nachteil liegt insbesondere dann vor, wenn der zuständige bevollmächtigte Priester physisch unerreichbar ist oder nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten erreicht werden kann (etwa in Missionsgebieten). In einem weiteren Sinne kann darunter aber auch ein moralischer Nachteil verstanden werden[6]. Die Hinzuziehung des zuständigen Pfarrers zur Eheschließung kann durchaus mit moralischen Nachteilen verbunden sein, beispielsweise mit einer fehlerhaften Ehevorbereitung oder dem Vollzug der Eheschließung in der modernen liturgischen Form.

Bedenken: Obgleich ein Begriff wie „schwerer Nachteil“ in Hinblick auf den Grundsatz „salus animarum suprema lex“ im Zweifel so weit auszulegen ist, daß der Tatbestand des c.1116 CIC erfüllt ist und eine Ungültigkeit des Sakraments verhindert wird, kann er aufgrund seiner Unbestimmtheit keine letztgültige Rechtssicherheit vermitteln.

b) Sakramentspendung durch exkommunizierte und suspendierte Priester

Das Kirchenrecht gestattet es unter bestimmten Umständen, daß exkommunizierte und suspendierte Priester ohne reguläre Jurisdiktionsgewalt gültig und erlaubt die Sakramente spenden können:

c. 1335 CIC: „Wenn eine Beugestrafe untersagt, Sakramente oder Sakramentalien zu spenden oder einen Akt der Leitungsgewalt zu setzen, wird das Verbot ausgesetzt, sooft es für das Heil von Gläubigen notwendig ist, die sich in Todesgefahr befinden; wenn eine als Tatstrafe verwirkte Beugestrafe nicht festgestellt ist, wird das Verbot außerdem ausgesetzt, sooft ein Gläubiger um die Spendung eines Sakramentes oder Sakramentale oder um einen Akt der Leitungsgewalt nachsucht; das aber zu erbitten, ist aus jedwedem gerechten Grund erlaubt.“

Der entsprechende Kanon des alten Kirchenrechts ist noch deutlicher und kann als Auslegungshilfe hinzugezogen werden:

c. 2261 CIC (a.F.): „§2: Mit Ausnahme der in §3 angegebenen Einschränkung können die Gläubigen aus jedem gerechten Grunde einen Exkommunizierten um die Spendung der Sakramente und der Sakramentalien bitten. [...] Wird eine solche Bitte, Sakramente oder Sakramentalien zu spenden, an einen Exkommunizierten gestellt, dann darf er der Bitte willfahren, ohne verpflichtet zu sein nachzuforschen, welchen Grund der Bittsteller hat.

§3: Einen Exkommunizierten, der „vitandus“ ist, wie auch einen Exkommunizierten, dessen Exkommunikation durch einen Richterspruch verhängt oder festgestellt ist, können die Gläubigen nur um die Spendung des Bußsakramentes angehen. Dabei haben auch diese Exkommunizierten dann die in Canon 882 genannten weitgehenden Vollmachten [...].“

Wird somit ein exkommunizierter Priester von einem Gläubigen aus einem gerechten Grunde um die Vornahme einer priesterlichen Handlung gebeten, die ihm an sich nicht gestattet ist, so wird nicht nur das Verbot ausgesetzt, sondern die zur Vornahme erforderliche Jurisdiktion positiv verliehen. Im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses könnte angenommen werden, daß die fehlende Jurisdiktion auch gem. c.1335 CIC (analog) bei einem Nichtexkommunizierten verliehen wird, der einer einfachen Suspension oder einem einfachen Jurisdiktionsmangel unterliegt – andernfalls wäre es beispielsweise einfacher, bei einem exkommunizierten Priester gültig die Sakramente zu empfangen, als bei einem Diözesanpriester, der sich außerhalb seines Bistums aufhält, was ein Wertungswiderspruch wäre. Ein Erst-Recht-Schluß ist in Hinblick auf den c.19 CIC, wonach bei Regelungslücken auf vergleichbare Vorschriften zurückgegriffen werden kann, grundsätzlich zulässig.

Ein gerechter Grund wird bereits bei dem aufrichtigen Bedürfnis des Gläubigen angenommen, von seinen Sünden gereinigt zu werden[7], und dürfte auf jeden Fall gegeben sein, wenn bei einem bevollmächtigten Priester der Amtskirche mit liturgischen Mißbräuchen und Abweichungen von der katholischen Glaubenslehre zu rechnen ist. Eine Bitte der Gläubigen braucht nicht explizit formuliert sein, sondern kann auch implizit vorliegen, wenn die Gläubigen etwa einen Priester zum Beichthören erwarten[8].

Bedenken: Die Voraussetzungen des c. 2261 könnten bei restriktiver Auslegung nicht erfüllt sein, wenn der Exkommunizierte von sich aus die Initiative zur Sakramentspendung ergreift und die Bitte des Gläubigen ihr nicht zeitlich vorausgeht[9]. Es ist schwer feststellbar, ob die implizite Bitte der Gläubigen um die Sakramente (durch Aufsuchen des Beichtstuhls oder Betreten der Kapelle) tatsächlich zeitlich vorrangig ist oder nicht vielmehr der Priester vorab seine Bereitschaft zur Sakramentspendung durch das Warten im Beichtstuhl und die Ankündigung von Meßzeiten vorab signalisiert.

c) Sakramentspendung durch schismatische Priester

Nach dem neuen Kirchenrecht ist es gestattet, das Sakrament der Buße sogar bei nichtkatholischen (d.h. insbesondere orthodoxen) Spendern zu empfangen.

c.844 §2 CIC: „Sooft eine Notwendigkeit es erfordert oder ein wirklicher geistlicher Nutzen dazu rät und sofern die Gefahr des Irrtums oder des Indifferentismus vermieden wird, ist es Gläubigen, denen es physisch oder moralisch unmöglich ist, einen katholischen Spender aufzusuchen, erlaubt, die Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Krankensalbung von nichtkatholischen Spendern zu empfangen, in deren Kirche die genannten Sakramente gültig gespendet werden.“

In diesem Kanon ist implizit die These enthalten, daß nichtkatholische, also schismatische und häretische Geistliche dazu in der Lage sind, die Absolution gültig zu erteilen. Im Zuge eines Erst-Recht-Schlusses könnte man daraus ableiten, daß rechtgläubige Priester erst recht zur gültigen Sakramentspendung in der Lage sein müßten (so die mE nicht überzeugende Argumentation von P. Ramon Angles) [10].

Bedenken: C.884 §3 CIC verleiht den schismatischen Priestern nach seinem Wortlaut keine Jurisdiktion, sondern erlaubt lediglich den Sakramentempfang, sofern die Sakramente gültig gespendet werden können. D.h. die Jurisdiktionsgewalt ist nicht Rechtsfolge, sondern Voraussetzung des c.844 §3 CIC. Im Zuge des nachkonziliaren Ökumenismus wird die Jurisdiktionsgewalt der ostkirchlichen Bischöfe über ihre Diözesen  von Rom anerkannt[11]. Folglich ist es möglich, wenn auch ungerecht, daß die Bischöfe und Priester der Ostkirchen über reguläre bzw. delegierte Jurisdiktion verfügen, die Geistlichen der FSSPX dagegen nicht.

2. Die Generalklausel des c.144 („ecclesia supplet“)

Es ist festzustellen, daß sich den Bestimmungen des CIC einige Argumente für eine außerordentliche Jurisdiktionsgewalt der Priester der FSSPX entnehmen lassen, diese jedoch gewissen Bedenken ausgesetzt sind. An dieser Stelle greift jedoch das „ecclesia supplet“-Prinzip ein. Das „ecclesia supplet“-Prinzip ist ein weitgefaßter Auffangtatbestand und dient dazu, Jurisdiktionsmängel in Situationen des Irrtums und des Zweifels zu ersetzen.

c.144 CIC: „§1: Bei einem tatsächlich vorliegenden oder rechtlich anzunehmenden allgemeinen Irrtum und ebenfalls bei einem positiven und begründeten Rechts- oder Tatsachenzweifel ersetzt („suppliert“) die Kirche für den äußeren wie für den inneren Bereich fehlende ausführende Leitungsgewalt.

§2: Dieselbe Norm wird auf die in cann. 882, 883, 966 und 1111, § 1 genannten Befugnisse angewandt.“

a) Rechts- und Tatsachenzweifel

Die Supplierung im Falle eines begründeten und positiven Rechts- oder Tatsachenzweifels vermag die Bedenken, welche in Hinblick auf die Anwendbarkeit der oben genannten kirchenrechtlichen Bestimmungen vorgebracht werden können, unschädlich zu machen. Ein begründeter Zweifel liegt vor, wenn ein Priester sich kein Urteil darüber zu bilden wagt, ob er eine bestimmte Vollmacht besitzt oder nicht, weil er für jede der beiden Möglichkeiten Gründe sieht, wobei immerhin die Gründe, die für den Besitz der Vollmacht sprechen, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben[12]. Wenn sich die Wahrscheinlichkeit zu einer subjektiven Gewißheit verdichtet, besteht das Schutzbedürfnis in noch höherem Maße, so daß in diesem Falle die gesetzliche Ergänzung der fehlenden Vollmacht erst recht anzunehmen ist[13].

aa) Ein Tatsachenzweifel liegt bei einer zweifelhaften Sachlage vor, wenn nämlich unsicher ist, ob ein unter den Tatbestand fallender Sachverhalt wirklich wie vom Gesetz gefordert vorliegt[14].  Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein nicht bevollmächtigter Priester unsicher ist, ob ein Beichtender sich tatsächlich in Todesgefahr befindet und er somit gültig absolvieren kann. Die Beichte ist auch dann gültig, wenn sich im nachhinein herausstellt, daß sich der Pönitent nie in Todesgefahr befunden hat.

bb) Ein Rechtszweifel bezieht sich auf eine unklare Rechtslage, d.h. auf die Existenz, den Sinn, die Auslegung und den Umfang einer Gesetzesbestimmung sowie auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers[15]. Ein Rechtszweifel liegt vor, wenn wir beispielsweise unsicher sind, ob die moralischen Nachteile, die mit der Eheschließung bei einem Pfarrer der Amtskirche verbunden sein können, tatsächlich „schwere Nachteile“ i.S.d. c.1116 CIC darstellen. Ein Rechtszweifel liegt weiterhin vor, wenn wir unsicher sind, ob es der „Bitte der Gläubigen“ i.S.d. c.1335 CIC entgegensteht, wenn der Priester vorab seine Bereitschaft zur Sakramentspendung signalisiert. Ein Rechtszweifel liegt ebenfalls vor, wenn wir unsicher sind, ob ein Erst-Recht-Schluß von der Gültigkeit der Beichte in den schismatischen Ostkirchen auf die Gültigkeit der Beichte bei der FSSPX zulässig ist.

Die Tatbestandsvoraussetzungen des Rechtszweifels sind in unserem Falle unproblematisch erfüllt.

b) allgemeiner Irrtum

Weiterhin suppliert die Kirche fehlende Jurisdiktionsgewalt im Falle eines allgemeinen Irrtums. Der allgemeine Irrtum ist vom Privatirrtum dahingehend abzugrenzen, daß er bei einer Mehrheit von Personen einer bestimmten Bezugsgruppe – beispielsweise bei den Gläubigen der FSSPX oder eines Priorates – tatsächlich oder zumindest hypothetisch vorliegen muß. Da der tatsächliche allgemeine Irrtum zahlenmäßig und prozentual kaum feststellbar ist, wird nach dem neuen Kirchenrecht dezidiert nur noch ein „rechtlich anzunehmender allgemeiner Irrtum“ verlangt. Dies ist bereits gegeben, wenn aufgrund des Sachverhalts die objektive Möglichkeit eines Irrtums bei einer Vielzahl von Menschen besteht, auch wenn sich tatsächlich nur eine Minderheit irrt[16].

aa) Ein allgemeiner Rechtsirrtum liegt vor, wenn jemand allgemein als Inhaber einer bestimmten Jurisdiktionsgewalt betrachtet wird, weil die Allgemeinheit die Rechtslage nicht richtig einschätzt[17]. Im Falle von Beichte und Eheschließung kann ein solcher allgemeiner Rechtsirrtum grundsätzlich bejaht werden, da das gläubige Volk sich gar nicht darüber im Klaren ist, daß die Gültigkeit einiger Sakramente neben der Weihe- auch die Hirtengewalt voraussetzt, sondern aufgrund seiner Erfahrungen aus der seelsorgerischen Praxis davon ausgeht, daß jeder geweihte Priester gültig Beichte hören und bei der Eheschließung assistieren kann[18].

bb) Ein allgemeiner Tatsachenirrtum liegt vor, wenn eine rechtskundige Gemeinschaft von Gläubigen weiß, daß für eine priesterliche Handlung Jurisdiktion erforderlich ist, jedoch irrtümlich davon ausgeht, daß ein bestimmter Priester über Jurisdiktionsgewalt verfüge[19]. Ein allgemeiner Tatsachenirrtum kann dadurch entstehen, daß ein Priester durch sein Verhalten den Eindruck erweckt, er besäße die erforderliche Jurisdiktion, beispielsweise indem er sich in einen Beichtstuhl setzt oder regelmäßig bei der Schließung von Ehen assistiert[20]. Zwar wissen die rechtskundigen Gläubigen der FSSPX, daß die sakramentalen Handlungen ihrer Priester gegen den Willen der Amtskirche stattfinden und somit eine ordentliche Jurisdiktion nicht vorliegt, sind jedoch allgemein davon überzeugt, daß die erforderliche Hirtengewalt aufgrund der kirchlichen Notstandssituation dennoch vorhanden ist. Daher ersetzt die Kirche die fehlende Jurisdiktion auch wegen allgemeinen Tatsachenirrtums, wenn nur die Mehrzahl unserer Gläubigen davon ausgeht, daß unsere Priester die erforderliche Jurisdiktion besäßen, selbst wenn sie sich dabei im Irrtum befände.

Ergebnis: Auch wenn die Argumente, wonach den Priestern der FSSPX außerordentliche delegierte Gewalt zukommen könnte, nicht restlos sicher sind, so vermitteln sie zumindest einen positiven Zweifel, welcher in Verbindung mit dem „ecclesia supplet“-Prinzip mit hinreichender Sicherheit die Gültigkeit der Sakramente gewährleistet. Im übrigen ist davon auszugehen, daß die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Supplierung aufgrund allgemeinen Irrtums im Falle der Beichte und Eheschließung beinahe immer erfüllt sind, was der Fürsorgepflicht der Kirche für das Seelenheil ihrer Gläubigen auch durchaus angemessen ist.

C) Die Grenzen des positiven Kirchenrechts

Obgleich die Gültigkeit der Beichten und Eheschließungen bei der FSSPX nach dem gegenwärtigen Kirchenrecht bejaht werden kann, steht es der kirchlichen Obrigkeit in Ausübung ihrer judikativen und legislativen Gewalt frei, das Kirchenrecht auf ungerechte Weise anzuwenden oder die Bestimmungen des Kirchenrechts zu verändern. Theoretisch bräuchte man nur eine Sondervorschrift zu schaffen „Die Bestimmungen über die gesetzliche Delegation von Jurisdiktion und die Supplierung von Jurisdiktionsmängeln finden auf die Priester der Priesterbruderschaft St. Pius X. keine Anwendung“ und alle kirchenrechtlichen Argumente wären hinfällig. Daher lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Folgen es hätte, wenn die Jurisdiktion nicht mit den Bestimmungen des Kirchenrechts zu begründen wäre.

Der Grundsatz der Epikie besagt, daß ein Gesetz in einem besonderen Fall aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht gilt. Sie ermöglicht somit eine normative Korrektur des positiven Rechtes, wenn die wortwörtliche Anwendung des Gesetzes materiell ungerechte Ergebnisse produziert[21].

Die kirchliche Obrigkeit darf die ihr übertragene Hirtengewalt nicht beliebig einsetzen, sondern sie ist verpflichtet, damit das Seelenheil der ihr anvertrauen Gläubigen zu befördern[22]. Wenn das kirchliche Lehramt falsche Ideen verbreitet, welche wie die Religionsfreiheit und der Ökumenismus eine Beleidigung Gottes darstellen, wenn den Gläubigen die traditionelle Glaubenslehre und die überlieferte Liturgie vorenthalten werden und wenn die Ämterhierarchie die Bemühungen der katholischen Tradition um ihre Bewahrung durch Verweigerung der Jurisdiktionsgewalt boykottiert, so wird die Hirtengewalt in mißbräuchlicher Weise ausgeübt und eine normative Korrektur ist aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit zwingend erforderlich.

Im vorliegenden Falle ergibt sich aus dem Epikiegrundsatz, daß einem Priester die erforderliche Jurisdiktionsgewalt, die ihm von der Ämterhierarchie und vom Gesetz in rechtsmißbräuchlicher Weise verweigert wird, gewissermaßen durch Christus selbst verliehen wird, der ungeachtet der stellvertretenden Hirtenvollmacht des Papstes immer Herr der Kirche bleibt[23].

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